№ 03 Thomas Sattelberger: Auch Dinosaurier haben ein Recht zu sterben

Wir treffen Dr. Thomas Sattelberger an einem hochsommerlichen Tag auf seiner Terrasse am Ufer des Starnberger Sees. Sattelberger, im ersten Leben Personalvorstand von Unternehmen wie Continental, Lufthansa und Telekom, im zweiten Leben FDP Politiker mit Sitz im deutschen Bundestag, spricht mit uns über seine Erfahrung mit Graswurzeln und offenbart, dass er auch selber nicht nur einmal Bewegungen aus der Mitte der Organisation initiiert hat.

Wir schauen gemeinsam zurück auf die 70er und 80er Jahre, die Organizational Development Bewegung, auf das Thema Humanisierung der Arbeitswelt in den 80er Jahren, auf die Lernwerkstätten von BMW und Höchst, in denen “Blaumänner ihre Vorarbeiter wählten.” Wir erinnern uns an Saab und Volvo, die das Thema “Teilautonome Arbeitsgruppen” populär machten, und wir erinnern uns, als Mitte der Neunziger Jahre das Thema “Shareholder Value” mit einem Paukenschlag Einzug in die deutschen Entscheider-Etagen fand. “Profi Profit Profit” statt Visionen, das Credo des neuen Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG Jürgen Schrempp, stand seitdem über allen – und beschert von der Basis losgelöste Entscheider-Etagen, denen die Sensorik für Veränderungen in Organisationen fehlt. Die Organisationen wurden in der neuen Wunderwelt der Globalisierung zu Exekutionsmaschinen in einer eigentlich viel freieren Welt.

Sattelberger glaubt, dass Graswurzelbewegungen  einer der zentralen Faktoren für das Überleben von Organisationen in der heutigen Zeit sind. Die Graswurzel schafft sinnbildlich den Humus , auf dem neue Organisationsformen gedeihen können. Sie bildet das Nervensystem, das Kommunikationssystem, das die  Schlüsselfragen zum Überleben von Organisationen darstellt.

Im Gespräch schauen wir auf die Software-Giganten an Amerikas Westküste in ihrer rätselhaften Ambivalenz zwischen Feudalstruktur an der Spitze und Basisdemokratie im Bauch der Organisation. Wir schauen auf die Verantwortung der Personalarbeit im Kulturwandel und auf die Frage, inwiefern die Verhältnisse das Verhalten prägen.

 

Zitate:

“Ich war oft Initiator von Graswurzelbewegungen, wenn Menschen sich um mich gesammelt hatten. Später, als ich Positionsmacht hatte, habe ich Graswurzelbewegungen erlaubt zu existieren.”

“Viele Entwicklungen werden aus der Mitte heraus schon gesehen und erahnt. Die ganzen Wirecard Enthüllungen der letzten Jahre kamen ja nicht aus der Spitze sondern aus der Mitte.”

“Die Sensorik zu entwickeln, den Frühwarnradar zu haben, das ist ein Schlüssel für das gute Leben, ja sogar für das Überleben von Organisationen.”

“Ich musste als Manager erst verstehen, dass ich nicht durchdringe zu den Menschen”

“Wir müssen Respekt davor haben, dass Dinosaurier sterben dürfen. Es gibt übrigens ein Recht von Organisationen, nicht weiterzuleben. Und manche habe es auch nicht verdient, weiterzuleben.”

“Die Frage des Nervensystems, des Kommunikationssystems, ist eine der Schlüsselfragen zum Überleben von Organisationen.”

“Man kann in Organisationen Schutzräume schaffen, in denen kritisches, anderes, nicht nur überleben, sondern auch wachsen kann.”

“Eishockeyteams nehmen oft in der hitzigsten Phase des Spiels ihre Auszeit, um wirklich nochmal zu reflektieren und sich neu zu sortieren.”

“Ein Vorstand hat mehr Spielräume als man denkt”

“Ich hatte eine dosierte Partizipation in der Meinungsbildung, aber nicht in der Beschlussfassung”

“Die amerikanischen Internet Konzerne sind mir ein Mysterium, weil sie einerseits hochfeudal sind – also Kapital und Strategie wird von ganz wenigen bestimmt – und im Bauch der Organisation sind sie eigentlich fast basisdemokratisch aufgestellt.”

“Der Druck auf Unternehmen, gläsern zu sein, ist viel stärker als früher. Früher wurde man manchmal gläsern gemacht, heute ist man gut beraten, gläsern zu sein, weil sonst die Menschen draussen vermuten, dass drinnen ganz viele krumme Dinge passieren.”

“Im Netz bin ich gleichgestellt – da kommt ein Stück Egalisierung in der Machtbeziehung her.”

“Freiheit führt nicht unbedingt zu einem freieren Leben.”

“Authentizität und Idee sind ein Garant für Followership, aber kein Garant für gute Führung.”

“Für mich sind Graswurzelbewegungen eine von vier bis fünf Ingredienzien zum Überleben der Organisationen. Die Graswurzel schafft den Humus in der Organisation. Neben der Graswurzel braucht es eine kritische Minderheit an der Spitze der Organisation.”

“Spüren Kunden etwas von der Bewegung oder ist das nur eine Selbstbefriedigung? Das ist die entscheidende Frage!”

“Wir hatten die Idee, für diejenigen, die verrückt, sind, aber die Marke und den Kunden lieben, Raum zu schaffen – open spaces for radicals.”

“Kulturarbeit, das macht halt kein CFO oder Chief Digital Officer so nebenher, das ist Kernaufgabe der Personalorganisation und leider oft nicht richtig wahrgenommen”

“Es ist ja nicht so, dass das neue Mindset da war, und dann haben wir das Internet erfunden – nein, das Internet hat umgekehrt unser Bewußtsein geprägt.”

 

Weiterführende Links:

 

Zu unserem Buch “Graswurzel-Initiativen in Unternehmen hat Dr. Thomas Sattelberger das Vorwort geschrieben, hier geht es zur -> Buch-Seite

 

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