systemtheorie
№ 07 Judith Muster: Über Verbürokratisierung und Entbürokratisierung von Organisationen
Unser heutiger Gesprächspartner dürfte über die Grenzen der organisationsoziologisch forschenden und lehrenden Mitmenschen hinaus bekannt sein: Judith Muster. Zum einen lehrend an der Uni Potsdam tätig, zum anderen beratend als Partner der internationalen Unternehmensberatung Metaplan tätig, spricht sie mit uns über Graswurzelinitiativen, brauchbare Illegalität und die Frage, welche Rolle mitarbeitergetriebene Initiativen, die ohne Auftrag aus der Informalität der Organisation entstehen, wirklich Unternehmen verändern können.
Wir sprechen darüber, ob Graswurzelinitiativen vielleicht auch ein Zeichen unserer Zeit sind und verständigen uns, dass sie zumindest heute durch die Form der Kommunikation deutlich legitimierter sind. Wir sprechen offen über diese Bewegungen und die zunehmende werden Sichtbarkeit.Heute kann man konstatieren: Wir können jetzt über Graswurzelinitiativen verhandeln, früher konnte man das Phänomen nicht einmal besprechen.
Macht das die Sache leichter für die Graswurzel? Judith Muster verneint: Zwar wird ein formaler Ausschluss aus der Organisation im schlimmsten Falle dann auch für alle sichtbar. Wesentlicher ist aber dennoch im Falle der Konkretisierung des Anliegens, dass wenn es nach der hochfliegenden Wertediskussion zur Ableitung konkreter auch schmerzhafter Maßnahmen kommt, die Akteure keinen Schutz durch formale Hierarchie haben. Die Fallhöhe desjenigen, der die Graswurzelinitiative in die Lösungsorientierung führt, sei so relativ hoch. Man muss also genau den Zeitpunkt abpassen, an dem man die Verhandlung mit der Hierarchie, die die Entscheidung ja absichern, aufnimmt. Alles was jenseits der Formalität stattfindet, ist extrem viel risikoreicher für die Akteure.
Der Rat für alle Graswurzelakteure, den Judith Muster auch in ihrem lesenswerten Schlusswort zu unserem Buch “Graswurzelinitiativen in Unternehmen” gibt: Wer ohne Auftrag beginnt, aber einen nachhaltigen Veränderungsimpuls setzen will, hat nur eine Lösung: Sich schleunigst einen Auftrag besorgen.
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Zitate
“Gleichzeitig findet man das auch ein bisschen schick, dass man jetzt so eine Graswurzelinitiative fördert oder erlaubt als Vorstand oder als Management. Und deshalb heftet man das sich gerne ans Revert. Aber es darf halt auch nicht wehtun.”
“Ich habe ja mal versucht Working Out Loud als semiformale Initiative mit hohem Schauseitenwert und geringem Strukturwert zu beschreiben, die brauchbar illegal ist.”
“Die Graswurzel ist auch eine Form von Bewegung in der Organisation: wenn sie zu früh anfängt zu formalisieren, dann geht dieser Bewegungscharakter automatisch verloren. Aber wenn man die Bewegung nie auf formale Strukturen stellt, dann hat sie es immer schwer. Das ist ein Dilemma, in dem man als Graswurzelinitiative agieren muss. Krieg man auch nicht weg.”
“Graswurzeln ermöglichen es, über die vorgesehenen Hierarchiewege hinweg Netzwerke zu bilden, ohne sich darum scheren zu müssen, was eigentlich die vorgesehenen Wege wären.”
“Es gibt eine Tendenz zur Verbürokratisierung von Organisationen – und dann entbürokratisieren sie sich auch wieder. Dazu können Graswurzelinitiativen beitragen.”
Links
- „The Tyranny of structurelessness“ von Jo Freeman.Hier geht im Grunde um das Problem, dass (hier spezifisch) Bewegungen, nur weil sie formal keine Hierarchie und Regeln haben, nicht doch welchen folgen – aber dass es dadurch schwerer besprechbar ist: https://www.jofreeman.com/joreen/tyranny.htm
- Brauchbare Illegalität als Thema in “Der ganz formale Wahnsinn”: https://anchor.fm/wahnsinn/episodes/11-Sie-beseitigen-jetzt-dieses-Problem-und-belstigen-mich-nicht-mit-den-Einzelheiten—-ber-Regelabweichungen-eachb4
- Metaplan: https://www.metaplan.com/de/
- Judith Muster bei brandeins im Interview: Problemlösungen und Lösungsprobleme
- Interview mit Judith Muster: Keine Chefsache
- Judith Muster / Stefan Kühl: Organisationen gestalten: Eine kurze organisationstheoretisch informierte Handreichung