selbsterneuerung
№ 13 Dr. Hans-Joachim Gergs: Der Angriff auf die alte Ordnung
Hans-Joachim Gergs ist Forscher, Berater und Autor, und hat aktuell mit “Agilität braucht Stabilität” ein neues, sehr lesenswertes Buch vorgelegt. In unserem Buch “Graswurzelinitiativen in Unternehmen” greifen wir Erkenntnisse aus seiner Forschungsarbeit auf, die er in seinem Buch “Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung” veröffentlicht hat. Anlaß genug, ihn zum Gespräch über Graswurzelinitiativen zu treffen.
Gergs schaut mit geschultem Blick auf die Hinterbühne der Organisation und analysiert, was hinter der Kulisse passiert und wie auch soziale Bewegungen und damit auch Graswurzelbewegungen Organisationen verändern. Dabei hinterfragt er die Grundannahme, die seit Kotter und Peters & Watermann bestehen: Geht Veränderung wirklich nur mit Druck, gibt es ohne Sense for Urgency keine Veränderung? Gibt es einen festen Set von Erfolgsfaktoren, die das Überleben der Organisation sichern? Gergs spricht lieber nicht von Erfolgsfaktoren, sondern von Handlungsprinzipien, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Organisation langfristig überlebensfähig ist. Patentrezepte, so Gergs, gibt es nicht.
Die wichtigsten Prinzipien aus seiner Sicht sind Selbstreflexion, Kommunikation und Vernetzung. Der Erhalt der Erneuerungsfähigkeit, so Gergs, ist Sisyphusarbeit, die Arbeit daran hört nie auf. Entscheidend für die Frage, wie man die Handlungsprinzipien in der Organisation verankert, ist das Mindset, die Haltung von Entscheidern und Mitarbeitern, sich ständig zu hinterfragen.
Zentraler Punkt: Es geht darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, aus denen heraus die bestehende Ordnung in Organisationen angegriffen werden können. Dafür braucht es Kommunikation und Vernetzung der Akteure und ein Management, dass Experimente nicht bestraft, sondern als Lernmöglichkeiten sieht. Diese Räume kann man schaffen, aber man kann nicht planen, was in ihnen passiert. Man kann aber sehr wohl indirekte Variablen beobachten. So verweist er auf das Softwarehaus MaibornWolf, das den Milchverbrauch in der Küche als KPI für die Kommunikations- und Vernetzungsaktivitäten im Haus beobachtet und auch kommuniziert. Geht der Milchverbrauch zurück, findet zu wenig informaler Austausch statt.
Wir sprechen über das Spannungsfeld von Hierarchie und Netzwerk, auf das es keine allgemeine Antwort geben kann. Je nach Organisation und ihrem Umfeld liegt die Antwort anders. Ein Finanzamt hat klare Strukturen und Regelungen, es sind justizable Prozesse, sie lassen nicht viel Informalität zu – und das ist auch ok. IT Unternehmen agieren in einem komplexen Umfeld mit hoher hoher Komplexität, hier müssen Räume für Informalität geschaffen werden. Und auch Netzwerke entwicklen sich immer wieder zu Hierarchien, und werden dann wieder von Netzwerken angegriffen. Das treibt den gesellschaftlichen und organisatorischen Wandel.
Brauchen wir nun mehr Türme oder mehr Plätze, und was rät er Unternehmen in komplexen Märkten? “Wir brauchen mehr Mut zur Lücke”, lautet seine Antwort. Möglichkeitsräume sollten geschaffen werden, zu Experimentieren und Ausprobieren angeregt werden. Das erfordert auch eine neuen Führungskultur. Führung braucht, so Gergs, die Brückenbauer. Führung muss einerseits ständig die Spannung aufrechterhalten, aber auch Brücken bauen – sonst passiert kein Austausch.
Mit dem Blick auf Graswurzelinitiativen rät er zur Gelassenheit, wenn sie erkennbar erstmal keinen Erfolg vorzuweisen hat. Der Angriff auf die bestehende Ordnung war dann zwar nicht erfolgreich, aber das heißt, das die bestehende Ordnung noch funktionierte. Wenn bedauert wird, dass nur 10 bis 20% der Change Projekte erfolgreich sind, so sieht Gergs darin eine gute Nachricht: Die herrschende Ordnung war offenbar noch funktional, und es ist gut, dies herauszufinden.
Was braucht nun ein Graswurzl-Akteur? Hohes Frustrationspotential. Kommunikations- und Vernetzungskompetenz. Und mikropolitisches Gefühl, denn er muss Politiker sein und mit Machtstrukturen umgehen können. Und auch er muss lernen, loszulassen.
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Informationen zu unserem Buch “Graswurzelinitiativen in Unternehmen” gibt es -> hier.
Zitate
“Mich hat die Informalität von Organisationen immer interessiert – das Leben hinter der Kulisse ist eigentlich das spannende! Wir gucken in der klassischen BWL auf die rationale Organisation, mich hat aber als Soziologe die irrationale Seite interessiert.”
“Erfolgsfaktoren des Wandels sind keine Erfolgsfaktoren mehr, sobald sie publiziert sein. Dann ist es Allgemeingut”
“Was ich tun kann als CEO, ist eine Organisation zu gestalten, die Innovation ermöglicht. Dazu gehört Kommunikation und Mut zu Experimenten”
“In Netzwerken kann struktur- und hierachielosigkeit brutal sein”
“Wir müssen Räume schaffen, die Erneuerung ermöglichen – Räume, die bewusst von der formalen Struktur abgekoppelt sind”
“Komplexität kann ich nur mit Komplexität beantworten – sonst baue ich eine Organisation, die ich zwar kontrollieren kann, aber der Markt läuft mir davon”
“Die Idee, Innovation zu managen, halte ich für skuril. Dinge passieren halt. Ich muss daher die Möglichkeitsräume schaffen.”
“Ich glaube, dass Graswurzelinitiativen notwendigerweise häufig scheitern – und das ist nichts schlimmes. Es ist ein Versuch, die bestehende Ordnung anzugreifen – und wenn sie scheitern, dann scheint die bestehende Ordnung noch zu funktionieren”
“Du musst als Eigentümer oder Vorstand einer Firma Räume ermöglichen, in denen der Angriff auf die bestehende Ordnung passiert. Wo die bestehende Ordnung herausgefordert wird. Das wäre die hohe Kunst.”
Shownotes
Das neue Buch von Hans-Joachim Gergs: Agilität braucht Stabilität: Mit Ambidextrie Neues schaffen und Bewährtes bewahren, https://shop.schaeffer-poeschel.de/prod/agilitaet-braucht-stabilitaet
Hans-Joachim Gergs, Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung, https://www.beltz.de/fachmedien/training_coaching_und_beratung/produkte/produkt_produktdetails/29415-die_kunst_der_kontinuierlichen_selbsterneuerung.html
Links aus dem Podcast:
Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, https://www.amazon.de/alle-spielen-Theater-Selbstdarstellung-Alltag/dp/3492238912
Alexander Nicolai / Alfred Kieser, Trotz eklatanter Erfolglosigkeit: Die Erfolgsfaktorenforschung weiter auf Erfolgskurs
http://dialog-erfolgsfaktorenforschung.de/ErfolgsfaktorenforschungNicolai-KieserDBW2002.pdf
Hanjo Gergs & Arne Lakeit, Netzwerke brauchen Hierarchie https://leanbase.de/publishing/leanmagazin/netzwerke-brauchen-hierarchie
Niall Ferguson, Türme und Plätze: Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht, https://www.amazon.de/Türme-Plätze-Netzwerke-Hierarchien-globale/dp/3549074859
Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen, https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tyrannei_in_strukturlosen_Gruppen